****       Sapere aude!        ****        
                 
Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – forderte der Philosoph Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Er hatte etwas viel von uns verlangt, aber ein wenig sollten wir ihm schon entgegenkommen. Jeder auf seine Weise. Hier die meine.
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Gerald Wolf, Gastautor / 15.11.2022 /

 Foto: Tim Maxeiner


Ach Du, mein liebes Frauchen!


Können Tiere, moralisch gesehen, überhaupt mit uns Menschen verglichen werden? Wir Menschen sind doch wohl unvergleichlich. Und die Tiere?


Nicht Alfons sagt das zu seiner Gerlinde, nein, Lucky zu unserer Leipziger Freundin Beate. Lucky ist nicht Mensch, sondern Hund. Ein Rehpinscher. Natürlich kann er nicht sprechen, aber so ausgesprochen rührend ist er, wenn er zu seinem Frauchen aufschaut, sich dabei über die Schnauze leckt und mit dem Schwanz wedelt! Vor lauter Zuneigung zittert Lucky, möchte gern hoch zu Frauchen, hoch aufs Sofa, bleibt aber brav auf dem Teppich liegen. Immer und immer wieder dieselbe Geste, mit der er zeigt, wie sehr er sie mag, unsere Freundin. Menschen bevorzugen Worte, um ihre Liebe zu bezeugen. Die allerdings sind weniger verbindlich. Auch lässt sich mit Worten viel leichter heucheln. Können Tiere das auch?
Denken wir an einen Hund, der wütend bellt, sobald ein Fremder am Gartenzaun vorbeikommt. Von sich aus macht er das, einfach um Herrchen und Frauchen vor dem Fremden zu schützen. Vielleicht auch, weil ihm das von den beiden so abverlangt wird. Und nun der Test: Sie bieten dem Wüterich ein Stück Wurst an. Ignoriert er das Angebot, bellt weiterhin so wütend wie zuvor und lässt sich partout nicht beruhigen, dann ist das ehrlich. Doch kann es auch anders kommen: Der Hund späht interessiert nach der Wurst, beruhigt sich und schnappt schließlich danach, womöglich sogar schwanzwedelnd. Und dann? Dann knurrt und bellt er wieder wie zuvor. Ist er falsch, der Hund? Ein falscher Hund? Können Tiere, moralisch gesehen, überhaupt mit uns Menschen verglichen werden? Wir Menschen sind doch wohl unvergleichlich. Und die Tiere?


Tiere sind keine Pflanzen
Natürlich nicht. Auch keine Pilze. Wenn es um die Definition der großen organismischen Reiche geht, ist damit schon alles gesagt. Alle drei Reiche der höheren Organismen − die der Pflanzen, Pilze und Tiere − verfügen über echte Zellen. Anders als bei den Bakterien haben sie einen Zellkern und dazu Organellen, die sich ebenfalls von denen der Bakterien unterscheiden. Eine starre Zellwand, wie sie für die Pflanzen und Pilze typisch ist, fehlt den Tieren. Ohne Wenn und Aber gehören wir Menschen dazu.
Zellen sind gewöhnlich so klein, dass man sie mit bloßem Auge nicht sehen kann. Und dennoch handelt es sich um wahrliche Wunderwerke. Durch die Evolution wurde über Milliarden Jahre hin an ihrem Bauplan gebastelt, und alles, was dabei herauskam, wurde als Konstruktionsanweisung im Zellkern konserviert. Vererbbares „Wissen“ ist das, Erbinformation genannt. Ihre Funktionsabschnitte nennt man Gene. Repräsentiert werden sie durch DNA-Doppelmoleküle, die, im Zellkern zusammengeknüllt, bei vielen der höheren Organismen (also auch bei uns Menschen) etwa zwei Meter lang sind. Der größte Teil der Gene wird für ganz grundlegende Aufgaben benötigt: für den Bau der verschiedenartigen Zelltypen und die tausenden und abertausenden Enzyme, die den äußerst komplexen Stoffwechsel bewerkstelligen.
Demgegenüber erscheinen die Erbinformationen, die für die Konstruktion der Gewebe, Organe und selbst die des Gehirns nötig sind, eher nachrangig. Auch die für die Artunterschiede von Pilzen, Pflanzen und Tieren. So ähneln etwa 60 Prozent der Gene der Fliegen denen des Menschen! Für die Besonderheiten unseres Gehirns gegenüber denen der uns nächstverwandten Tiere, der Schimpansen, genügen Unterschiede in der Erbsubstanz von deutlich weniger als 1 Prozent ihrer Gesamtinformation. Trotz alledem sind wir Menschen etwas ganz Besonderes, kein Tier kann uns das ausreden. Winzige Unterschiede im Erbgut des Menschen sorgen für eine Lernfähigkeit, die sich auch über Generationen hinweg erstreckt. Sie ermöglicht die Kulturentwicklung, und nicht zuletzt dadurch stehen wir im Tierreich so einzigartig da.


Vom Stichling zurück zum Menschen
Die Männer des bei uns heimischen Stichlings legen zur Laichzeit ein tunnelförmiges Nest an, locken eines oder mehrere Weibchen zur Eiablage in das Nest, besamen die Eier und bewachen dann das Gelege. Getreulich warten sie darauf, dass daraus die Jungfische schlüpfen. Immer wenn sie das Nest verlassen, saugt sie der Stichlingsmann in sein Maul und spuckt sie wieder ins schützende Nest. Und die Mütter? Auf und davon sind sie! Was nicht alles wird über Rabenväter gesagt und gefaselt, hier sind es Rabenmütter, pfui! Mal ein Tier-Tier-Vergleich also.
Und wie geht das mit Fisch-Mensch? Denken wir an Guppys im Aquarium. Wenn der Besitzer an die Scheibe klopft, kommen sie sofort herangeschwommen. Aus Liebe zu ihm? Nein, die Tierchen wissen aus Erfahrung, dass sogleich Trockenfutter aus den Fingerspitzen krümelt. Auch der Mensch, der Aquarianer, weiß darum. Trotzdem immer wieder sein fast schon seliges Lächeln, da er doch mehr dahinter vermuten möchte. So etwas wie Zuneigung.
So ferne sind wir uns durchaus nicht, die Stichlinge und wir Menschen. Immerhin gehören wir zu ein und demselben Verwandtschaftskreis, zu den Wirbeltieren. Unsere Urahnen waren Knorpelfische, zu denen die Haie und Rochen gehören. Daraus entwickelten sich Knochenfische, solche wie das Guppy und der Stichling. Noch später dann alle die anderen Wirbeltierklassen, die Amphibien, Reptilien und Vögel also, und mit den letzteren auch wir, wir Säugetiere. Alle Wirbeltiere besitzen ein inneres knöchernes Skelett, anders als zum Beispiel die Insekten. Und dazu ein zentrales Nervensystem, das von dessen vorderem Abschnitt, dem Gehirn, aus regiert wird. Hier finden sich unter anderem Regionen, in denen die Gefühle entstehen. Genau wissen wir das von uns Menschen, weil wir darüber reden können. Aber eben nicht die Hunde, ja noch nicht einmal unsere allernächsten Verwandten, die Menschenaffen. Und unter ihnen auch nicht unsere allerallernächsten tierischen Brüder und Schwestern, die Schimpansen. Säugetiere haben in der Tiefe des Gehirns das sogenannte Limbische System. Wird es beim Menschen gereizt, dann erfährt er das durch das Entstehen von Angst, Wut oder eben auch von liebevoller Zuneigung. Und was passiert, wenn es bei unseren tierischen Verwandten gereizt wird? Sicherlich dasselbe, zumindest etwas ganz Ähnliches, aber sie können es uns eben nicht sagen. Schade!


Oder doch nicht schade?
Stellen wir uns einmal vor, Rinder könnten sprechen. Wenn sie, so wie üblich, von ihren Weiden zum Schlachthof abtransportiert werden und wüssten, zumindest ahnten, was sie dort erwartet, riefe es „Nein“ von den Lastwagen herunter, „nein, wir möchten nicht sterben! Was seid Ihr nur für Untiere, die Ihr Euch ‚Menschen‘ nennt. Fressen wollt Ihr uns, aus unseren Hüften Steaks braten, aus unseren Därmen Würste machen, Würste von unserem Fleisch!“ Und dann: „Uns Frauen habt Ihr früh schon die Kinder weggenommen, damit wir immerzu Milch abzugeben bereit sind. Anstelle der Mäulchen unserer Kinder pumpt Ihr uns die Milch mit Maschinen ab, um daraus Butter zu machen und Quark oder unsere Milch zu Käse zu verfaulen!“ Mir jedenfalls, mir, dem Autor, würde der Appetit vergehen, gründlich und für alle Zeit. Und mit mir zusammen wahrscheinlich allen anderen Menschen. „Die armen, armen Tiere, nur noch vegan!“, lautete dann die Devise. Egal, wie viel Amazonas-Urwald noch gerodet werden müsste, um ersatzweise Soja anzubauen.
Man bedenke das Dilemma in den Tierlaboren, wenn auf die Testung von Arzneimitteln und Impfstoffen aus Rücksicht auf das Tierwohl zu verzichten wäre! Patienten würden schwer erkranken, auch sterben, ebenso Kinder, nur weil die Sicherheit fehlt. Und ist diese Rücksichtnahme gegenüber einfacher strukturierten Versuchstieren, Mäusen oder Ratten zum Beispiel, überhaupt zu rechtfertigen? Haben solche Tiere seelische Qualitäten, die an Differenziertheit und Tiefe mit den unseren überhaupt zu vergleichen sind?
Keiner weiß es, aber doch wohl sind die Menschenseelen etwas ganz Besonderes, unvergleichlich schützenswerter. Das sollte man jedem, der mit Menschen umzugehen hat, aufs Kopfkissen packen. Insbesondere denen, die von ihren Schreibtischen aus Kriege organisieren und mit ihnen Tod und Verderben unzähliger Menschen. Bis hin zu jenen, die ebenfalls von Schreibtischen aus vermeintlicher Infektionsrisiken wegen Hunderttausende oder Millionen von Kindern, Schulkindern, malträtieren. Oder die Isolierung von Sterbenskranken befehlen. Menschen, die gerade dann der liebenden Hand ihrer Angehörigen bedürfen.


Tiere machen all das nicht. Wie schön, sie können es gar nicht!