****       Sapere aude!        ****        
                 
Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – forderte der Philosoph Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Er hatte etwas viel von uns verlangt, aber ein wenig sollten wir ihm schon entgegenkommen. Jeder auf seine Weise. Hier die meine.
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Gerald Wolf 14.01.2023 / 16:00 / Foto: Pixabay/


Engagiertes Nichtwissen über die Umwelt


Wissensdurstig von Kindesbeinen an und von guten Lehrern für die Naturwissenschaften begeistert worden, machte ich bei Demonstrationen von „Fridays for Future“ die Probe aufs Exempel: Was wissen die jungen Leute wirklich von den Themen, die sie auf die Straßen treiben?
Etwa sieben Jahre alt war ich, da fragte mich mein Cousin Harald, was denn das für Vögel seien, die da auf dem Telefondraht. Na Schwalben, rief ich. Ja, aber was denn für welche? Da zeigte er auf eine Gruppe, die er Rauchschwalben nannte, und ein paar Meter weiter auf ein Vogelpärchen – Mehlschwalben seien das. Hochmut schwang in seiner Stimme (er war gerade mal ein Jahr älter als ich, der Ochse!), als er erklärte, woran die Vögel zu unterscheiden sind. Woher wollte er das denn auf einmal wissen? Von seinem Biolehrer, der kenne drei- oder vierhundert Vogelarten. So viele? Der Cousin hatte Glück mit dem Lehrer. Begeistert von seinem Fach, wie er war, wollte die halbe Klasse später Biologie studieren. Oder etwas Ähnliches.
Ein- oder zweimal durfte ich dabei sein, wie der Lehrer Vögel in speziellen Netzen fing, um sie zu beringen. Und seitdem gab es für mich nur noch eines: Vögel. Mit einem Opernglas aus dem elterlichen Fundus bewaffnet, ging es dann hinaus in Wald und Flur, und das zusammen mit meinem Schulfreund Dieter. Seitdem haben es mir diese fliegenden Viecher angetan. Mit jeweils neu entfachter Begeisterung, wenn es irgendwohin in ein ferneres Land geht. Jahre später war es die Natur insgesamt und das Wissen darüber, was mich gefangen nahm, wiewohl der Beruf die Akzente mit der Hirnforschung, der Zell- und Molekularbiologie viel enger setzte. Letztlich aber hat auch dafür das Ur-Erlebnis mit Haralds Dorfschullehrer gesorgt.


Natur, Wissen im Überfluss
„Natur“ ist ein weiter Begriff. Vom Universum reicht er bis hin zu dessen kleinsten Teilchen. Sich selbst nimmt der menschliche Geist aus und mit ihm all das, was er produziert: das Seelenleben und die Kultur. Im engeren Sinne aber neigen wir dazu, all das als Natur zu verstehen, was da irgendwo „draußen“ ist, gleich ob Wald oder Flur wie auch deren krabbelnde und fliegende Bewohner. Grün hat sie zu sein, die Natur. Und sei es ein Maisfeld oder ein langweiliger Kiefernforst. Wer Wert auf Bildung legt, allzumal auf solche der politischen Art, benutzt dann oft und gern Wörter mit der Vorsilbe „Öko“ – Ökosystem, Ökobau, Ökoprodukte −, spricht von „Ökologie“ und immerzu von der Umwelt, die es zu schützen gilt. Oft mit größter Bestimmtheit, ja mit Pathos, obwohl er sich da „draußen“ gar nicht auskennt.
Zwar weiß ein solcher Zeitgenosse, dass es da bunte Blumen gibt, irgendwo, und erkennt auf den ersten Blick, was ein Schmetterling, was eine Fliege, eine Libelle und was ein Käfer ist. Er weiß den Marienkäfer von einem Maikäfer (obwohl seit Jahren keinen gesichtet) zu unterscheiden. Weiß allerdings nicht, dass es allein in Deutschland 78 Marienkäfer-Arten gibt und etwa 7.000 Käferarten insgesamt. Weltweit sind es mehr als 400.000 Arten. − Ach du lieber Gott, wer soll sich da auskennen und wozu? Gleichviel, sie gilt es zu schützen, auch die jährlich neu entdeckten. Ebenso all das andere Krabbel- und Grünzeug. In erster Linie durch Klimaschutz. Durch Umweltschutz eben!
Natur, das sind nicht nur die Lebewesen, die Pflanzen, Tiere, Pilze, Bakterien und, als Sonderformen des Lebens, die Viren. Auch das Unbelebte gehört dazu, all das, was Gegenstand der Physik und Chemie ist. Apropos Chemie, auch da gab es für mich, den Autor, ein Schlüsselerlebnis. In der siebten Klasse war es, der Chemieunterricht startete mit dem Junglehrer Schneider. Ein flinkes Kerlchen war das, der Herr Schneider, und der Einzige, der an der Schule einen weißen Kittel trug. Gleich in der ersten Stunde begeisterte er uns mit einem Zauberkunststück: Vor aller Augen goss Herr Schneider Rotkrautsaft in ein Reagenzglas und kippte dann einen Tropfen Salmiakgeist dazu. O Wunder, der Saft verfärbte sich grün! Darauf dann ein paar Tropfen Essig, und das Ganze changierte nach Rot. Nicht genug damit. Herr Schneider fischte aus einem Vorratsglas einen Metallspan und ließ ihn in ein zuvor mit Salzsäure versehenes Reagenzglas fallen. Es schäumte, und bald darauf war der Metallspan verschwunden! Nein, nicht einfach weggezaubert wäre er, sondern das Metall Magnesium sei es gewesen, das sich mit Salzsäure in ein Salz umgewandelt hätte, das in Wasser lösliche und daher unsichtbare Magnesiumchlorid.
Und fortan gehörte auch die Chemie zu meinen Favoriten. Chemie, mein Favorit, leicht gesagt, denn was heißt es, sich dieses Gebiet zu eigen machen. Tag für Tag ist mit etwa zwanzigtausend wissenschaftlichen Artikeln zu rechnen, und jede Minute wird irgendwo auf der Welt eine neue chemische Verbindung synthetisiert. Soll das alles wichtig sein, fragt man sich da, oder ist davon manches überflüssig und kann weg? Nur eben wer oder was entscheidet darüber? Überfluss gibt es auf allen Gebieten der Wissenschaft, und die riesigen Probleme im Umgang mit dem Wissen vermag keine ihrer Disziplinen befriedigend zu schultern.


Nichtwissen tut’s auch. Oder?
Ein paar Male habe ich mich zu den Jugendlichen in deren Demonstrationen „Fridays for Future“ eingereiht. Auf die Frage, ob ich denn mitmachen dürfe, erntete ich jeweils scheele Blicke, manche aber wirkten eher amüsiert. Das eine wie das andere Mal fing ich nach ein, zwei Minuten schweigenden Mitmarschierens an und fragte meine Nachbarn: 1,5-Grad-Ziel, warum nicht 2,5 oder 5 Grad? Das schien den meisten ganz klar, nämlich weil dann die Erde verglüht. Ich gab zu bedenken, in manchen der früheren Epochen war die Durchschnittstemperatur deutlich höher gewesen, und die Erde sei nicht verglüht. Im Gegenteil, mehr Wasser wäre verdunstet, dadurch mehr Wolken, mehr Regen, und die Erde sei grüner gewesen. Achselzucken hier und da, und schnell ebbte das Interesse ab.
Und CO2, meine nächste Frage, das Gas sei, heißt es, ein Klimakiller. Wieso eigentlich? Na ja, weil das CO2 ein Treibhausgas ist, antwortete das eine Mal nahezu zeitgleich ein halbes Dutzend. Und, ein Einzelner, das finge die Wärmestrahlung ab und dadurch käme es zur Erderhitzung. Als ich versuchte, auf frühere Erdperioden mit deutlich höheren CO2-Konzentrationen zu verweisen, fiel mir eine Schülerin ins Wort und meinte, das könne man ja gar nicht wissen, weil das viel zu lange her sei. Ob man denn wisse, so ich wieder, dass die globale Erwärmung trotz weiter steigender CO2-Konzentration seit ein paar Jahren stoppt, und dass die CO2-Konzentration 2020 trotz weltweiten Lockdowns stetig weiter angestiegen war. Das wusste man nicht. Da versuchte ich auf die Absorptionskurve von CO2 zu verweisen, von wegen, dass die Absorptionsleistung in den Infrarotbereichen – denen der Wärmestrahlung also – so gut wie gesättigt sei und höhere CO2-Konzentrationen praktisch keine Auswirk… Niemand hörte noch zu, ich hatte das Interesse verspielt. Kurz noch der Versuch, andersartige Klimafaktoren zu erfragen, und ich gab auf.
Bald darauf ließ ich mich im Demonstrationszug zurückfallen und versuchte es dann aufs Neue. Dieses Mal mit Fragen zum Artenschutz. Die Meinung war einhellig, jawohl, es sei ganz schlimm, da würden Tier- und Pflanzenarten immer seltener und schließlich aussterben. Wegen des Klimawandels. Um welche Arten es sich dabei handele, wollte ich wissen. Sehr viele, war die Antwort meiner Nachbarin. Ein Schüler wusste: Orchideenarten! Hier bei uns, war meine Frage. Ja, hier gäbe es auch welche. Schon mal welche gesehen? Das nicht, aber er wisse das aus der Zeitung. Auch im Fernsehen sei dazu was gekommen. Ich weiter: Ebenso seien Schmetterlinge vom Seltenwerden betroffen oder gar vom Aussterben, hier bei uns. Jawohl, vor allem durch die Landwirtschaft, die intensivierte, gab der eine der Schüler zu bedenken, der mit den Orchideen. Also nicht durch den Klimawandel, fragte ich. Der auch! Wieso? Weil der furchtbar ist. Und deshalb demonstrieren wir ja.
Bücher sind nicht mehr angesagt
Meine Frage nun, ob jemand schon mal einen Nistkasten gebaut und im Wald aufgehängt habe. Hoch auf einem Baum. Das nicht, meinte ein auffällig hellblonder Junge mit Stolz in der Stimme, aber sein Großvater, der würde so was machen. Darauf ich wieder: Welche Schmetterlinge denn jeder so kenne. Fast synchron hieß es in der Menge: Kohlweißlinge! Eine Schülerin wusste, dann gäbe es ja noch diese Blauen. Na, schnippte sie mit den Fingern, wie heißen die denn gleich? Und den Zitronenfalter, warf der mit den Orchideenarten ein. Knapp viertausend Schmetterlingsarten kämen in Deutschland vor, warf ich ein. Der mit den Orchideen staunte: viertausend? Ob sie denn mit ihren Lehrern schon mal auf Exkursion gegangen wären, fragte ich dann. In ein Naturschutzgebiet zum Beispiel. – Nein, das nicht, aber in den Zoo! Einer der Schüler feixte: „Toll, da stehen ja auch die Namen dran!“
Und Bücher? Hat jemand von euch Bücher, in denen die Namen von Tieren oder Pflanzen, die man irgendwo gefunden hat, zu finden sind? Über drei, vier Köpfe hinweg kam es schreiend laut: „Wozu denn? Das will doch sowieso keiner. Überhaupt den ganzen Quatsch, den wir da ständig lernen sollen. Man vergisst das ja sowieso wieder. Und blöde wird man davon!“ Riesengelächter. Meine Nachbarin verwies auf ihr Handy und meinte, Bücher seien gar nicht mehr in, das Ding hier, das täte es.
Wie, bleibt zu fragen, würden denn die Antworten von Schülern in jenen Ländern ausfallen, die unserem Deutschland im PISA-Ranking nach oben hin entglitten sind. Und wie – noch drängender die Frage − ist es um deren Zukunft bestellt?