Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – forderte der Philosoph Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Er hatte etwas viel von uns verlangt, aber ein wenig sollten wir ihm schon entgegenkommen. Jeder auf seine Weise. Hier die meine.
Eignung und Quote
Einschaltquoten gibt es, Quoten an der Börse, in der Fischerei, Gewinnquoten bei Sportwetten und wo sonst noch überall. Zum Beispiel im Personalwesen. Die markanteste davon ist die Frauenquote. Zur Neutralisierung, so das politische Kalkül, wird sie auch „Geschlechterquote“ genannt. Sie ist durchaus nicht identisch mit der Eignungsquote, denn darunter ist der Anteil Geeigneter zu verstehen, und zwar geschlechtsunabhängig. Eigenartigerweise wird der Begriff „Eignungsquote“ nur im Zusammenhang mit der Zugangsberechtigung für bestimmte Studienrichtungen verwendet. Der zum Studium der Medizin-/Zahnmedizinstudium, der Psychologie, Tiermedizin oder der Pharmazie. Nicht nur um Schulnoten geht es dabei, nicht nur um die Abi-Besten, als maßgeblich werden auch die Ergebnisse von Studierfähigkeitsprüfungen herangezogen. Darunter der Test für Medizinische Studiengänge (TMS) und der Hamburger Naturwissenschaftstest (HAM-Nat). Physik, Chemie, Bio, Mathe und logisches Verständnis sind da gefragt, kein Gelaber. Die Zugehörigkeit zu Geschlechtskategorien spielt bei diesen Tests keine Rolle. Nicht die der biologischen Art, ob männlich oder weiblich also, noch ob da womöglich eine nicht-binäre Geschlechtsidentität vorliegt − genderfluid genannt, bigender oder agender. Auch das Studium selbst wartet mit Eignungsquoten auf. Sie mögen noch härter sein. Durchfaller-Raten zum Beispiel. Im Bauingenieurswesen betragen sie bis zu 50 Prozent! Aber auch das Leben an sich ist mit Eignungsprüfungen gepflastert, eine riesige Palette hält es dafür bereit. Durchfallen kann man beim Partner und erst recht in der Ehe, bei der Erziehung seiner Kinder, bei Freunden, im Leistungssport und − von großer Tragweite − im Beruf. Besonders schlimm wird es, wenn die Gesundheit versagt. Das Leben kann schön sein, sehr schön, aber auch hart, sehr hart.
Seit Urzeiten
Lebewesen, gleich ob Bakterien, Pflanzen, Tiere oder der Mensch, sind niemals perfekt. Und schon gar nicht ist es die Welt, in der sie leben. So förderlich wie nur möglich mit den jeweiligen Eignungsqualitäten umzugehen, ist ein Grundprinzip der Evolution. Gegensätze prallen hier hart aufeinander. Gnadenlos werden die Eignungstests durchgezogen, und die seit Urzeiten. Das Kalkül: Unter den Nachkommen sind hin und wieder solche, die durch rein zufällige Änderungen ihres Erbguts besser auf die − möglicherweise neuartige − Umweltsituation passen als die bisherigen. Über Generationen pflanzen sich die im Überlebens- und Fortpflanzungsgeschäft besser oder am besten Geeigneten erfolgreicher als die anderen fort. Auch wenn die Erfolgs-Quoten der Gut- oder gar Bestgeeigneten anfangs noch niedrig sein mögen, ergeben sich daraus über Generationen hin Ketten von schrittweisen Verbesserungen. Hier und da resultieren Verzweigungen, und das alles geschieht autonom, ohne jedweden steuernden Einfluss also. Selbstoptimierung ist das − Grundprinzip der biologischen Evolution. Ohne den steten Kampf um Eignung und Bessereignung gäbe es keine Lebewesen. Auch nicht uns Menschen. „Biologismus“ sei das? Nein, Biologie ist das!
Dennoch gibt es unter den Lebewesen nicht nur Kampf, sondern auch Partnerschaften. Im Tierreich zum Beispiel Rücksichtnahme auf Schwächere. So in der Nachkommenfürsorge und in sozialen Verbänden. Dennoch ist auch hier vermeintliche Selbstlosigkeit dem Überlebensprinzip der Art zuzurechnen, mithin seiner Evolutionsfähigkeit. Wie sonst sollten Jungtiere, die es zu füttern und zu schützen gilt, überleben? Wahre Selbstlosigkeit aber rührt uns in tiefster Seele an, Gänsehaut entsteht. Zum Beispiel wenn ein Hund sein Frauchen oder Herrchen vor dem Angriff eines Raubtieres schützt und dabei sein eigenes Leben einbüßt. Darin wähnen wir Menschlichkeit zu erkennen, insgeheim zumindest, weil nun mal das wahrhaft Gute einzig und allein uns Menschen zukomme, der „Krone der Schöpfung“. Umgekehrt empfinden wir das vermeintlich Böse im Tier als „unmenschlich“, zum Beispiel wenn der neue Partner einer Löwenmama die Kinder seines Vorgängers totbeißt. In uns regt sich da so etwas wie ein „gerechter Zorn“, und der mit dem durchaus verständlichen Bedürfnis, den Verursacher zu bestrafen. Ja, ihn zu vernichten!
Geeignet, oder?
Wer sich der DDR-Jahre noch gut erinnert, weiß um den seinerzeitigen Vorzug, ein „Arbeiterkind“ zu sein. Oder der Bauernklasse zuzugehören. Denn das erleichterte den Zugang zum Studium ungemein. Anders, wer ein Angestelltenkind war oder gar einer Theologenfamilie entstammte. Heutzutage ist dieses Eignungsmaß obsolet. An seine Stelle ist ein anderes getreten, das über die Verwendungsfähigkeit von Kandidat*innen zu entscheiden vermag: der Ovarbesitz oder -nichtbesitz. Auch die Hautfarbe kann begünstigend wirken, wenn nicht gerade „Weiß“. Hingegen die Eignung für bestimmte Aufgabenbereiche durch Eignungsprüfungen festmachen zu wollen, zum Beispiel die für politiknahe Ämter, führe an der politischen Notwendigkeit vorbei..
Ich erinnere mich meiner Mutter, wenn sie erzählte, sie hätte mit der Heirat 1933 ihre Tätigkeit als Postangestellte aufgeben müssen, weil „Doppelverdiener-Ehen“ nicht erlaubt waren. Auch hatte per Gesetz der Ehemann und nicht die Ehefrau das Sagen, wenn es um die Haushaltführung ging, um einen Wohnortwechsel oder den Kauf einer Waschmaschine auf Raten. In der Bundesrepublik wurde der Stichentscheid des Ehemannes durch das Bundesverfassungsgericht erst 1959 gekippt, begründet durch den Artikel 3 des Grundgesetzes: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Dass speziell die Männer heutzutage oft das Nachsehen haben, wenn die Frauenquote (noch) nicht erfüllt ist, war seinerzeit nicht absehbar und hätte bei den Betroffenen wahrschlich zu Verfassungsbeschwerden geführt. Indes müssen nach wie vor die Besonderheiten der Mutter-Kind−Beziehung in Rechnung gesetzt werden. Zum Beispiel für kinderlose Männer und Frauen nach Art von Ausgleichszahlungen oder durch Erleichterungen im Berufsleben. Zugleich wäre das ein förderlicher Windstoß für die Populationsdynamik unserer Bevölkerung.
Quoten hin, Quoten her, selbst den meisten Frauen, die die Nutznießer einer Frauenquote sind, kommt eine Bevorzugung ihres Geschlechtes wegen nicht geheuer vor. Sie wollen keine „Quotenfrau“ sein, stattdessen ihre Position im Berufsleben einzig und allein wegen ihrer besonderen Eignung verdienen. Auch und gerade dann, wenn es um höherrangige, gutbezahlte Stellen geht. Denn so gut wie nie spielen Frauenquoten bei der Besetzung von Arbeitsplätzen niederen Ranges eine Rolle − im Bau, im Handwerk, in der Landwirtschaft oder am Fließband. Wennschon Quoten, warum dann nicht anstelle der Frauen- oder „Geschlechter“-Quote geschlechtsunabhängige Eignungsquoten? Nicht nur um formale Kriterien sollte es dabei gehen, wie Lernfähigkeit und schon gar nicht um kurzfristige Lernerfolge, sondern eher vorrangig um Einsatzfreude, um logisches Denken, Zähigkeit, Ehrgeiz, Freude am Lernen, Eigenständigkeit, um eigene Ideen und die Befähigung, Außenstehende mitreißen zu können, insbesondere junge Menschen. Am anderen Ende der Palette greift die „Lahmarschigkeit“ platz − böse klingt das, wirkt aber ehrlicher als die Zumessung von „Antriebs- oder Motivationsschwäche“. Dafür ein probates Gegenmittel: der öffentliche Leistungsvergleich. Schamfähigkeit vorausgesetzt (Sich schämen. Oder lieber nicht. KOMPAKT 2. Juli-Ausgabe 2022), vermag er Wunder zu bewirken.
Talent
Nach den ersten Versuchen am Klavier oder mit dem Aquarellpinsel oder, später dann, bei einer Weinverkostung wissen die meisten von uns: Das ist es mal nicht! Ähnlich die Enttäuschung nach anfänglichen Erfolgen beim Schulsport im Weit- oder Hochspringen, beim Volley- oder Fußball oder nachdem man in der Mathe-Arbeit bei anfänglichen Einsen eine Vier eingeheimst hat. Immer gibt es da irgendwo im Umfeld Bessere. Erst recht im Fernsehen, dort geht es immer nur um Perfektion, um Leistungen, die für unsereinen nie erreichbar sind. Kaum jemals sieht man hier Versager, die als Mutmacher anreizen. Irgendetwas ist es dann doch, was wir recht gut können oder zu lernen imstande sind, aber nie reicht es zur Höchstform, nie für die Spitze. Woran liegt das? Woran bei uns und woran bei denen, die es bis zur Topform schaffen? Am elterlicher Drill, zum einen fehlend, zum andern ausschlaggebend? Wohl kaum.
Weit eher ist es die Begabung, m. a. W. das durch Erbanlagen „Gegebene“. Praktisch nie kommt dafür ein einzelnes Gen infrage, das man hat oder nicht, stattdessen eine günstige Kombination von vorteilhaften Genen. So gibt es kein einzelnes Gen, das für die Musikalität zuständig wäre, für mathematische Fähigkeiten oder Sportlichkeit, für ein quasi-fotografisches Gedächtnis, für handwerkliches Geschick, Empathie oder sprachliches Empfinden. Und immer gilt es, solche Gegebenheiten nicht einfach hinzunehmen, sondern durch Übung zu pflegen. Oft mit sehr viel Anstrengung. Nur so kommt Herausragendes zustande.
Auch mehr oder weniger Triviales mag genetisch begründet sein oder mitbegründet. Zum Beispiel die Glaubensfähigkeit oder, umgekehrt, die Neigung zur Skepsis. Manch einer ist bereit, ohne sonderliche Zweifel zu glauben, was die Masse glaubt, der sogenannte Mainstream. Gleich ob es sich um Religion oder Politik handelt, um die Neigung zum Aberglauben oder dazu, den Nutzen von Nahrungsergänzungsmitteln oder Homöopathika zu akzeptieren. Geborene Skeptiker hingegen glauben gerade das nicht und suchen, innerlich getrieben, nach Anhaltspunkten für ihre Zweifel. Nicht selten mögen diese ebenfalls fadenscheiniger Art sein.
Was also ist der Mensch, wer also, sollte sich jeder fragen, bin ich? Zusammengewürfelt aus Genvarianten und deren Realisierung auf der Zell-Ebene, aus Plus- und Minusvarianten von Talenten, aus Lebens- und Lernerfahrungen, aus Wissen, Unwissen, Glauben, Unglauben und Überzeugungen, aus Fähigkeiten und Fehlern, aus Zu- und Abneigungen und der Eignung für das Eine oder das Andere, jeder von uns ist:
EINZIGARTIG!
Der Angsthase
Nicht nur zu Ostern trifft man ihn an, den Angsthasen. Nein, zu jeder Jahreszeit und ausgesprochen häufig. Ansonsten sind Hasen eher selten geworden. Um die beiden nicht miteinander zu verwechseln, konzentriert man sich oft auf ein Körperteil des Angsthasen: den Fuß, den Hasenfuß. Dieser Ausdruck wiederum ist heutzutage weniger häufig in Gebrauch, häufig stattdessen: „Feigling“. Aber auch hierbei gibt es ein Problem, nämlich zwei Arten sind zu unterscheiden: der Partyschnaps, der mit dem Feigenaroma, und der Angsthasen eben, der Duckmäuser. Der erste soll den Appetit anregen, der andere dämpft ihn eher. Am wirksamsten dämpft der Typ Diederich Heßling, wie ihn Heinrich Mann in seinem „Untertan“ beschreibt: nach oben bücken, nach unten treten.
Der Feigling der ersten Art heißt so, weil er etwas mit Feigen zu tun hat. Und die Feigen heißen Feigen, weil die Frucht vom Feigenbaum stammt. Wieso aber heißt dann ein Feigling Feigling, wenn es um einen Duckmäuser (wiewohl nicht Duckhasen) geht, um eine Flasche, eine Memme, um Furchtsame, Waschlappen, Pfeifen, um Schwächlinge, um den Angsthasen beziehungsweise dessen Fuß? Im Wiktionary unter „Feigling“ nachgeguckt, findet man zum Wortursprung: mittelhochdeutsch veige, althochdeutsch feig(i), germanisch faigija-; auch: todgeweiht.
Gleich um welche Sorte von menschlichen Angsthasen es sich handelt, seit einiger Zeit ist es bei uns zu ihrer Massenvermehrung gekommen. Gemäß MDR-Meinungsumfrage (was immer man unter „Umfragen“ zu verstehen hat) soll mehr als die Hälfte der Deutschen Angst haben, ihre politische Meinung öffentlich zu äußern. Für eine Demokratie eine wahre Katastrophe. Vermutlich sind die Prozent-Angaben sogar noch geschönt. Allein wenn man an die Corona- und die Klimahysterie denkt und daran, wie ein Großteil der Bevölkerung, obwohl besser wissend, sich vor der „öffentlich-rechtlichen Meinung“ duckt. Insbesondere vor deren Diffamierungs- und Einschüchterungsmethoden.
Doch gibt es zum Angsthasen einen sympathischen Gegenpart: den Kämpfer, den Mutigen, den Kraftvollen, den Heldenmütigen. Der Kämpfer will siegen und tritt dazu gerne öffentlich auf. Falls es um eine gute Sache geht, wunderbar. Doch ist der Sieg dem Kämpfer nicht gewiss. Auf Dauer gesehen, wird meist gerade der Zürückhaltende der Sieger sein, der Angsthase. Andererseits setzt man dem Mutigen, dem Helden, Denkmäler − hier oder dort allenfalls −, nie dem Angsthasen. Der Mutige aber ist tot, und der Angsthase lebt. Er über-lebt. Ungerecht zwar, aber es ist nun mal so. Beispiele finden sich zur Genüge in unserer Geschichte, ebenso in der Gegenwart. Und selbst im Tierreich.
Mutige und feige Schimpansen
Wenn Schimpansen, unsere nächsten tierischen Verwandten, gegen einen Leoparden zu Felde ziehen, dann gibt es welche an der Front und andere, die lieber von weiter hinten zugucken. Nämlich wie der Bösewicht auf dem Ast liegt und faucht. Doch wirken auch die Tapfersten vorsichtig. Sind sie etwa feige? Mag so scheinen, denn was nützt Mutigsten blind draufgängerisch zu sein, wenn sie ihren Einsatz mit ihrem Leben büßen. Die Mutigen werden ja noch anderweitig gebraucht. Auch als Männer. Denn sie haben womöglich besonders vorteilhafte Gene, die ihren Nachkommen zugute kommen sollten. Die Frauen tun ohnehin besser daran, weit hinten zu bleiben, denn wenn sie im Kampfe stürben, was würde dann aus ihren Jungen? Und erst recht sollten sich die Jüngeren der Horde zurückhalten. Sie bilden den Stamm für die nächste Generation. Andererseits wird Mut gebraucht, Kampfgeist, sonst würde es dem Leoparden und seiner Familie allzu bequem gemacht, sich der Schimpansenhorde als Nahrungsreserve zu bedienen.
Draufgängertum beziehungsweise Zurückhaltung finden sich nach Art von Persönlichkeitsmerkmalen sogar bei Insekten. Besonders offensichtlich bei den Staatenbildenden. So sind Erkundungsflüge von Honigbienen bei schlechtem Wetter nicht „jedermanns“ Sache. Und tatsächlich, die einen fliegen scheinbar unbekümmert drauflos, während die anderen, die Angsthasen unter den Bienen, lieber ausharren, bis die Mutigen zurückkommen. Oder auch nicht. Und dann ist immer noch Zeit. Oder auch nicht.
Mutige und feige Menschen
Da ist zum Beispiel der nahe gelegene Steinbruchsee. Ohne mit der Wimper zu zucken, springen die einen von der zehn Meter hohen Felsnase, während die Anderen, die Angsthasen, lieber in der Sonne liegen. Auch solche gibt es, die an schwindelnd hohen Felswänden rumkraxeln, während es den Anderen schon beim Zugucken schlecht wird. Und die nächsten rasen mit ihrem Auto wie die Teufel um die Ecken. Unfälle gibt es hier wie dort, auch tödliche. Und manche sind seit ihrer letzten Mutprobe auf ewig an den Rollstuhl gefesselt. Zur Genüge finden sich aber auch Menschen, die niemals derartige Risiken eingehen, und sie werden auch nie auf eine so furchtbare Weise bestraft. Entweder sind sie einfach nur vorsichtig, weil klug, oder ihnen fehlt es grundsätzlich an Schneid. Angsthasen eben. Vielen von ihnen geht es nicht nur darum, körperliche Risiken zu vermeiden, sie haben auch Angst vor einem Gewitter oder vor Tieren, vor Spinnen oder Mäusen zum Beispiel. Ständige Angstbereitschaft ist ihr Wesensmerkmal. Manche der Ängstlichen machen noch nicht einmal den Mund auf, um sich gegen einen ungerechtfertigten Angriff zu verteidigen. Und schon gar nicht, um laut gegen die Politik der jeweils Herrschenden zu protestieren. Noch nicht mal leise. Ihren Freunden gegenüber zum Beispiel. In Extremfällen trauen sie sich gar nicht mehr vor die Tür. Was nur läuft bei solchen Angsthasen anders?
Angst, die Mutter der Feigheit
Seit langem sind Strukturen im Großhirn bekannt, die Angstgefühle und entsprechende Reaktionen zuwege bringen: die Mandelkerne (Corpora amygdaloidea). Tief drinnen in der Spitze der Schläfenlappen sitzen diese Nervenzellansammlungen. Neugeborene kennen keine Angst, denn erst mit etwa sechs bis acht Monaten reifen diese Angst produzierenden Hirnstrukturen aus. Und damit die Fähigkeit, auf etwas Ungewöhnliches mit Angstgefühl zu reagieren. Bei dem einen Kind womöglich stärker als bei einem anderen. Angstauslösende Erfahrungen kommen hinzu und können sich mitunter so verfestigen, dass späterhin die Angst zu einem dominierenden Zustand wird. So mancher Hasenfuß mag eine derartige Biografie aufweisen. Dass ein angstbestimmtes Verhalten lebensrettend sein kann, zumindest vor Schäden bewahren mag, liegt auf der Hand, und deshalb ist es so verbreitet. Und mit ihm die Fügsamkeit.
Die Politiker können sich freuen, wenn das von ihnen regierte Volk ängstlich ist, fügsam. Zwar mag ein solches Volk nicht gerade der Traum schlichthin sein, aber allemal ist es günstiger zu handhaben als ein störrisches. Zum Beispiel eines, das sich erkühnt, sich in die Belange der Regierenden einzumischen. Kein sonderliches Problem, wenn die Politik erfolgreich ist. Wehe aber, wenn nicht! Dann bedarf es des Schürens von Ängsten, um das Volk (um ihm die Identität zu nehmen, „Zivilgesellschaft“ genannt) unter Kontrolle zu halten. Und dazu ist alles recht: Klima-Angst, Corona-Angst, Angst vor den Rechten, die Angst vor falschen Meinungen, die Angst vor der Wahrheit, z. B. die vor Impfschäden, die Angst, die eigene politische Meinung öffentlich zu machen. Bis hin zu Absurditäten, wie der Angst vor dem „giftigen“ CO2. Schulkinder nach ihren Ängsten befragt, gaben an vorderer Stelle CO2 und die „Erderhitzung“ an.
Die Frage dann: Was ist besser, ein feiges Volk oder ein stolzes? Unter dem Begriff „stolzes Volk“ gegoogelt, findet sich Massen an Einträgen. Da ist wohl kein einziges Volk, das von sich nicht behaupten wollte, ein stolzes zu sein. Erst recht in der Nazi-Propaganda waren die Deutschen ein „stolzes Volk“. Wäre es doch besser ein feiges gewesen!
Wissen über die Umwelt oder Nichtwissen, einerlei
Prof. Dr. Gerald Wolf
Etwa sieben Jahre alt war ich, da fragte mich mein Cousin Harald, was denn das für Vögel seien, die da auf dem Telefondraht. Na Schwalben, rief ich. Ja, aber was denn für welche? Da zeigte er auf eine Gruppe, die er Rauchschwalben nannte, und ein paar Meter weiter auf ein Vogelpärchen – Mehlschwalben wären das. Hochmut schwang in seiner Stimme (er war gerade mal ein Jahr älter als ich, der Ochse!), als er erklärte, woran die Vögel zu unterscheiden sind. Woher wollte er das denn auf einmal wissen? Von seinem Biolehrer, der kenne drei- oder vierhundert Vogelarten. So viele? Der Cousin hatte Glück mit dem Lehrer. Begeistert von seinem Fach, wie er war, wollte die halbe Klasse später Biologie studieren. Oder etwas Ähnliches. Ein- oder zweimal durfte ich dabei sein, wie der Lehrer Vögel in speziellen Netzen fing, um sie zu beringen. Und seitdem gab es für mich nur noch eines: Vögel. Mit einem Opernglas aus dem elterlichen Fundus bewaffnet, ging es dann hinaus in Wald und Flur, und das zusammen mit meinem Schulfreund Dieter. Seitdem haben es mir diese fliegenden Viecher angetan. Mit jeweils neu entfachter Begeisterung, wenn es irgendwohin in ein ferneres Land geht. Jahre später war es die Natur insgesamt und das Wissen darüber, was mich gefangen nahm, wiewohl der Beruf die Akzente mit der Hirnforschung, der Zell- und Molekularbiologie viel enger setzte. Letztlich aber hat auch dafür das Ur-Erlebnis mit Haralds Dorfschullehrer gesorgt.
Natur, Wissen im Überfluss
„Natur“ ist ein weiter Begriff. Vom Universum reicht er bis hin zu dessen kleinsten Teilchen. Sich selbst nimmt der menschliche Geist aus und mit ihm all das, was er produziert: das Seelenleben und die Kultur. Im engeren Sinne aber neigen wir dazu, all das als Natur zu verstehen, was da irgendwo „draußen“ ist, gleich ob Wald oder Flur wie auch deren krabbelnden und fliegenden Bewohner. Grün hat sie zu sein, die Natur. Und sei es ein Maisfeld oder ein langweiliger Kiefernforst. Wer Wert auf Bildung legt, allzumal auf solche der politischen Art, benutzt dann oft und gern Wörter mit der Vorsilbe „Öko“ – Ökosystem, Ökobau, Ökofaschismus, Ökoprodukte − , spricht von „Ökologie“ und immerzu von der Umwelt, die es zu schützen gilt. Oft mit größter Bestimmtheit, ja mit Pathos, obwohl er sich da „draußen“ gar nicht auskennt. Zwar weiß ein solcher Zeitgenosse, dass es da bunte Blumen gibt, irgendwo, und erkennt auf den ersten Blick, was ein Schmetterling, was eine Fliege, eine Libelle und was ein Käfer ist. Er weiß den Marienkäfer von einem Maikäfer (obwohl seit Jahren keinen gesichtet) zu unterscheiden. Weiß allerdings nicht, dass es allein in Deutschland 78 Marienkäfer-Arten gibt und etwa 7.000 Käferarten insgesamt. Weltweit sind es mehr als vierhundert Arten. − Ach du lieber Gott, wer soll sich da auskennen und wozu? Gleichviel, sie gilt es zu schützen, auch die jährlich neu entdeckten. Ebenso all das andere Krabbel- und Grünzeug. In erster Linie durch Klimaschutz. Durch Umweltschutz eben!
Natur, das sind nicht nur die Lebewesen, die Pflanzen, Tiere, Pilze, Bakterien und, als Sonderformen des Lebens, die Viren. Auch das Unbelebte gehört dazu, all das was Gegenstand der Physik und Chemie ist. Apropos Chemie, auch da gab es für mich, den Autor, ein Schlüsselerlebnis. In der siebenten Klasse war es, der Chemieunterricht startete mit dem Junglehrer Schneider. Ein flinkes Kerlchen war das, der Herr Schneider, und der einzige, der an der Schule einen weißen Kittel trug. Gleich in der ersten Stunde begeisterte er uns mit einem Zauberkunststück: Vor aller Augen goss Herr Schneider Rotkrautsaft in ein Reagenzglas und kippte dann einen Tropfen Salmiakgeist dazu. O Wunder, der Saft verfärbte sich grün! Darauf dann ein paar Tropfen Essig, und das Ganze changierte nach Rot. Nicht genug damit. Herr Schneider fischte aus einem Vorratsglas einen Metallspan und ließ ihn in ein zuvor mit Salzsäure versehenes Reagenzglas fallen. Es schäumte, und bald darauf war der Metallspan verschwunden! Nein, nicht einfach weggezaubert wäre er, sondern das Metall Magnesium sei es gewesen, das sich mit Salzsäure in ein Salz umgewandelt hätte, das in Wasser lösliche und daher unsichtbare Magnesiumchlorid.
Und fortan gehörte auch die Chemie zu meinen Favoriten. Chemie, mein Favorit, leicht gesagt, denn was heißt es, sich dieses Gebiet zu eigen machen. Tag für Tag ist mit etwa zwanzigtausend wissenschaftlichen Artikeln zu rechnen, und jede Minute wird irgendwo in der Welt eine neue chemische Verbindung synthetisiert. Soll das alles wichtig sein, fragt man sich da, oder ist davon manches überflüssig und kann weg? Nur eben wer oder was entscheidet darüber? Überfluss gibt es auf allen Gebieten der Wissenschaft, und die riesigen Probleme im Umgang mit dem Wissen vermag keine ihrer Disziplinen befriedigend zu schultern.
Nichtwissen tut’s auch. Oder?
Ein paar Male habe ich mich zu den Jugendlichen in deren Demonstrationen „Fridays for Future“ eingereiht. Auf die Frage, ob ich denn mitmachen dürfe, erntete ich jeweils scheele Blicke, manche aber wirkten eher amüsiert. Das eine wie das andere Mal fing ich nach ein, zwei Minuten schweigenden Mitmarschierens an und fragte meine Nachbarn: 1,5-Grad-Ziel, warum nicht 2,5 oder 5 Grad? Das schien den meisten ganz klar, nämlich weil dann die Erde verglüht. Ich gab zu bedenken, in manchen der früheren Epochen war die Durchschnittstemperatur deutlich höher gewesen, und die Erde sei nicht verglüht. Im Gegenteil, mehr Wasser wäre verdunstet, dadurch mehr Wolken, mehr Regen, und die Erde sei grüner gewesen. Achselzucken hier und da, und schnell ebbte das Interesse ab.
Und CO2, meine nächste Frage, das Gas sei, heißt es, ein Klimakiller. Wieso eigentlich? Na ja, weil das CO2 ein Treibhausgas ist, antwortete das eine Mal nahezu zeitgleich ein halbes Dutzend. Und, ein Einzelner, das finge die Wärmestrahlung ab und dadurch käme es zur Erderhitzung. Als ich versuchte, auf frühere Erdperioden mit deutlich höheren CO2-Konzentrationen zu verweisen, fiel mir eine Schülerin ins Wort und meinte, das könne man ja gar nicht wissen, weil das viel zu lange her wäre. Ob man denn wisse, so ich wieder, dass die globale Erwärmung trotz weiter steigender CO2-Konzentration seit ein paar Jahren stoppt, und dass die CO2-Konzentration 2020 trotz weltweiten Lockdowns stetig weiter angestiegen war. Das wusste man nicht. Da versuchte ich auf die Absorptionskurve von CO2 zu verweisen, von wegen, dass die Absorptionsleistung in den Infrarotbereichen, denen der Wärmestrahlung also, so gut wie gesättigt sei und höhere CO2-Konzentrationen praktisch keine Auswirk … Niemand hörte noch zu, ich hatte das Interesse verspielt. Kurz noch der Versuch, andersartige Klimafaktoren zu erfragen, und ich gab auf.
Bald darauf ließ ich mich im Demonstrationszug zurückfallen und versuchte es dann aufs Neue. Dieses Mal mit Fragen zum Artenschutz. Die Meinung war einhellig, jawohl, es wäre ganz schlimm, da würden Tier- und Pflanzenarten immer seltener und schließlich aussterben. Wegen des Klimawandels. Um welche Arten es sich dabei handele, wollte ich wissen. Sehr viele, war die Antwort meiner Nachbarin. Ein Schüler wusste: Orchideenarten! Hier bei uns, war meine Frage. Ja, hier gäbe es auch welche. Schon mal welche gesehen? Das nicht, aber er wisse das aus der Zeitung. Auch im Fernsehen wäre dazu was gekommen. Ich weiter: Ebenso seien Schmetterlinge seien vom Seltenwerden betroffen oder gar vom Aussterben, hier bei uns. Jawohl, vor allem durch die Landwirtschaft, die intensivierte, gab der eine der Schüler zu bedenken, der mit den Orchideen. Also nicht durch den Klimawandel, fragte ich. Der auch! Wieso? Weil der furchtbar ist. Und deshalb demonstrieren wir ja.
Meine Frage nun, ob jemand schon mal einen Nistkasten gebaut und im Wald aufgehängt habe. Hoch auf einem Baum. Das nicht, meinte ein auffällig hellblonder Junge mit Stolz in der Stimme, aber sein Großvater, der würde so was machen. Darauf ich wieder: Welche Schmetterlinge denn jeder so kenne. Fast synchron hieß es in der Menge: Kohlweißlinge! Eine Schülerin wusste, dann gäbe es ja noch diese Blauen. Na, schnippte sie mit den Fingern, wie heißen die denn gleich? Und den Zitronenfalter, warf der der mit den Orchideenarten ein. Knapp viertausend Schmetterlingsarten kämen in Deutschland vor, warf ich ein. Der mit den Orchideen staunte: viertausend? Ob sie denn mit ihren Lehrern schon mal auf Exkursion gegangen wären, fragte ich dann. In ein Naturschutzgebiet zum Beispiel. – Nein, das nicht, aber in den Zoo! Einer der Schüler feixte: „Toll, das stehen ja auch die Namen dran!“
Und Bücher? Hat jemand von euch Bücher, in denen die Namen von Tieren oder Pflanzen, die man irgendwo gefunden hat, zu finden sind? Über drei, vier Köpfe hinweg kam es schreiend laut: „Wozu denn? Das will doch sowieso keiner. Überhaupt den ganzen Quatsch, den wir da ständig lernen sollen. Man vergisst das ja sowieso wieder. Und blöde wird man davon!“ Riesengelächter. Meine Nachbarin verwies auf ihr Handy und meinte, Bücher wäre gar nicht mehr in, das Ding hier, das täte es.
Wie, bleibt zu fragen, würden denn die Antworten von Schülern in jenen Ländern ausfallen, die unserem Deutschland im PISA-Ranking nach oben hin entglitten sind. Und wie – noch drängender die Frage − ist es um deren Zukunft bestellt?