****       Sapere aude!        ****        
                 
Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – forderte der Philosoph Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Er hatte etwas viel von uns verlangt, aber ein wenig sollten wir ihm schon entgegenkommen. Jeder auf seine Weise. Hier die meine.
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Gerald Wolf, Gastautor / 02.08.2018  / Foto: Tim Maxeiner /   

Die Kultivierung der Dankbarkeit

Das Gefühl echter Dankbarkeit ist ein Phänomen, das offenbar von unserer jüngeren Stammesgeschichte herrührt. Da völlig uneigennützig, zählt Dankbarkeit zu einem der edelsten Gefühlzustände, die unser Arsenal an seelischen Erlebensformen bereithält. Keiner vermag diesen Zustand zu beschreiben. Mit Worten nicht und mit Gesten nicht. Stellen Sie sich vor, verehrte Leserin, verehrter Leser, jemand kenne diese Gemütsregung nicht, ein Alien zum Beispiel, und Sie wollten ihm nahebringen, wie das geht mit dem Dankbarsein. Mit verklärtem Blick etwa und einer Aufwärtsbewegung der Hände, währenddessen Sie tief einatmen? – Ganz gleich, wie Sie es anstellen, es funktioniert nicht.

Das Gegenstück zur Dankbarkeit ist der Undank. Unsere Kinder seien undankbar, heißt es. Und die Flüchtlinge. Sie, die Flüchtlinge, sie würden doch bei uns auf so viel Entgegenkommen stoßen, erhielten Wohnstatt und Geld, ärztliche Hilfe und Rechtsbeistand, Kindergärten böte man ihnen an, Schulen und Integrationskurse. Dafür könnten diese Menschen doch mal durch die Straßen ziehen und laut skandierend „Danke!“ rufen. Und jene ebenso lauthals verdammen, die sich an uns, am Gastgeber, versündigen. Auch sollten Sie, die Flüchtlinge, uns beim Haus- und Straßenbau helfen, in der Landwirtschaft, bei der Altenpflege – unentgeltlich, als Gegenleistung. Denn bei ihnen zuhause funktioniere das alles ja auch.

Und unsere Kinder? Höchstens, dass sie am Küchentisch mal so etwas wie ein „Danke!“ dahinnuscheln. Aus erzieherischen Gründen von elterlicher Seite abgenötigt. Eher ist das Gegenteil von Dankbarkeit zu beobachten: Die Kinder verlangen und nölen und nörgeln und liegen mit ihren Forderungen den Eltern so lange in den Ohren, bis sie kriegen, was sie kriegen wollen. Egal, wie stark dafür ihre Eltern zu bluten haben. Und ob das überhaupt gut ist für sie, die Kinder.

Bei den Kindern der Flüchtlinge allerdings ist das anders. Die haben zu gehorchen, heißt es. Hier stehen Vater und Mutter auf höchster Stufe. Nichts von dem, was sich die Kinder bei uns leisten. Im Gegenteil, im Heimatland werden sie mit Reisegeld ausgestattet, um unter Lebensgefahr ins Schlaraffenland Europa zu gelangen und von dort so viel Geld wie möglich nach Hause zu schicken. Zum Nutzen und Frommen der ganzen Familie. Aus Respekt und aus Dankbarkeit. Fakt oder Fiktion? Oft genug wohl Fakt.

Vor längerer Zeit noch waren bei uns in Deutschland die Familien ganz ähnlich strukturiert. Schon das Vierte Gebot verlangte das: „Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt!“ Das Gebot ist eine Art von Generationenvertrag, der so oder so für alle Völker der Welt gilt. Nicht nur aus formellen Gründen, es geht dabei auch um eine Herzenssache, eine, die aus einer tief empfundenen Dankbarkeit geboren ist.

Wasserflöhe kennen keine Dankbarkeit

Dankbarkeit – womöglich handelt es sich hierbei um ein rein menschliches Gefühl. Wasserflöhe kennen es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht, vielleicht noch nicht mal unser Hund. Er ist lieb, ist uns treu ergeben, aber dankbar? Zwar sagen wir, der Bonsai zeige sich dankbar, wenn er von uns ins Licht gestellt, regelmäßig gegossen und beschnitten wird. Aber dankbar in dem Sinne, wie wir es von uns selbst kennen, nie und nimmer.

Wie jedes andere Gefühl ist das der Dankbarkeit ein höchst subjektiver Erlebniszustand, der wie alle die sogenannten Qualia nur aus unserer absoluten Privatheit heraus zu erfahren sind. Zwar können wir uns darüber mit Anderen austauschen, aber nur deshalb, weil wir wissen oder zu wissen glauben, dass diese ebenfalls über derlei Erfahrungen verfügen. Anders gewendet: Wie sollte man einem Farbenblinden den Unterschied in den Farbempfindungen für Grün, Rot und Gelb erklären, wenn er Farben aus eigener Erfahrung nicht kennt, wie einem Psychopathen nahebringen, was unsereiner bei Mitleid empfindet? 

Dankbarkeit gehört zur Klasse der positiven Gefühlszustände. Man kann womöglich bei der Empfindung tiefer innerlicher Dankbarkeit kaum jemals zeitgleich Negatives empfinden, nicht Wut, Hass oder Neid, nicht Feindseligkeit oder Ärger. Die Hirnforschung hat sich bisher kaum um das Phänomen „Dankbarkeit“ gekümmert. Wie auch? Tierversuche scheiden mangels Zugänglichkeit aus, und das Wenige, was dazu am menschlichen Gehirn unternommen werden kann, zeigt einfach das, was zu erwarten ist: Nirgendwo bleibt es still im Gehirn, wenn uns Dankbarkeit durchflutet. Am eifrigsten melden sich die sogenannten Glückszentren an der Basis unseres Gehirns, voran der Nucleus accumbens mit dem mesolimbischen System. Diese Regionen sind aber auch dann aktiv, wenn wir im Schach oder beim Hochsprung gewinnen, Empfänger eines Liebesbeweises sind, Tiramisu auf der Zunge zergehen lassen oder dem dritten Klavierkonzert von Rachmaninow lauschen.

Um dankbar zu sein, bedarf es eines Grundes. Einer Person können wir dankbar sein, wenn sie uns Gutes getan hat, vor allem dann, wenn es selbstlos geschah. Oder gar von ihr ein Opfer abforderte. Allenfalls genügen Abstrakta, zum Beispiel mögen wir dem Schicksal dankbar sein, dem Leben an sich, dem schönen Wetter. Oder Gott.

Besser noch als Antidepressiva

Dankbarkeit ist ein gutes Gefühl. Nicht nur für den Empfänger, auch für die Seite des Senders. Sich in Dankbarkeit zu üben, ist, wenn auch eher selten praktiziert, ein Stück Psychotherapie, womöglich wirksamer noch als Antidepressiva, Yoga oder verbissenes Joggen. Erforderlichenfalls können dabei Andere helfen, entsprechende Überlegungen anzustellen, die Eltern, irgendwelche Freunde und – mit einem Quäntchen Glück – ein kluger, einfühlsamer Mensch in der näheren Umgebung.

Was aber, wenn es uns soweit recht gut geht, sich Dankbarkeit dafür aber nicht einstellen will? Wem denn konkret sollte man danken, fragt man sich, wenn es sich um Pflichten des Staates handelt, wie sie sich ganz einfach aus der Gesetzeslage heraus ergeben. Das mag zum Beispiel bei Gewährung einer Rente so gesehen werden oder der von Asyl oder Aufenthaltsrecht. Die Lumpigsten unter uns werden sich fragen, wofür sie denn dankbar sein sollen, wenn der Partner ihnen hilft, wenn sie die Lehrerin von damals gut beraten hat, wenn ein Arzt, ein Polizist sie gerettet haben, ein Rettungsschwimmer oder einer von der Feuerwehr, da es sich doch um Pflichten handelt. Die stete Dankeserwartung der Eltern, die einen einst gepäppelt haben, kann ja ausgesprochen nervig sein. Das alles seien doch wohl Pflichten, selbstverständliche, gottverdammte Pflichten!

Andererseits kann die Erwartung von Dank, wenn es denn damit hapert, recht ordentlich Frust verursachen. Schlimmer noch ausgemachter Un-Dank. Wer kennt sie nicht, die Klagen über undankbare Kinder, undankbare Freunde, undankbare Schüler, undankbare Kunden, undankbare Bürger, undankbares Publikum? Das Missbehagen, das durch Undank ausgelöst wird, kann viel größer sein als der seelische Profit, der von der Dankbarkeit herrührt, nur eben ins Negative gekehrt. Das mag einzelne Menschen treffen, aber auch ganze Generationen be-treffen. 

Zum Beispiel die Generation, die nach dem Zweiten Weltkrieg Deutschland aus Schutt und Asche wiederaufgebaut hat. Oft mit bloßen Händen. Und vor allem ohne wesentliche Hilfe von außen. Ja sogar im Gegenteil, wie im Falle der sowjetischen Besatzungsmacht, die die wenigen funktionierenden Reste demontiert und nach Hause abtransportiert hatte. Oder denken wir an jene, die Kinder und Kranke auf Flüchtlingstracks unter Beschuss gen Westen schleppten, nach Deutschland. Wo steht ihr Denkmal? 

                         Ich hasse Undank mehr an einem Menschen
                        Als Lügen, Hoffart, laute Trunkenheit.
                        Als jedes Laster, dessen starkes Gift,
                        Das schwache Blut bewohn
t.

                                                                                                       (William Shakespeare)

 

Und wenn es mit der Dankbarkeit nicht so recht klappen will: üben, üben, üben!