****       Sapere aude!        ****        
                 
Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – forderte der Philosoph Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Er hatte etwas viel von uns verlangt, aber ein wenig sollten wir ihm schon entgegenkommen. Jeder auf seine Weise. Hier die meine.
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Gerald Wolf, Gastautor / 24.12.2019 / 06:25 / Foto: Pixabay/         38 Leserbriefe   

Wolfs Rückblick 2019: Sag mir, wo die Ideale sind

Wo sind sie geblieben, die Ideale, die Deutschland einst beseelten? Die seiner Ingenieure, Unternehmer, Erfinder und Entdecker, die seiner Nobelpreisträger, Dichter und Denker. Ideale gelten als Motor, als der vielleicht wichtigste für jeden Einzelnen von uns und nicht minder für die Gesellschaft. Wehe, wenn dieser Motor abhandenkommt. Die Wirtschaftsleistung unseres Landes sinkt, woanders steigt sie. Unsere Schwerindustrie, die Chemie-Industrie und die pharmazeutische schwächeln, die Energiewirtschaft steuert auf eine Katastrophe zu. Von der Feinmechanik und Optik und von der Rechentechnik, dereinst Firmen von Weltbedeutung, existieren nur noch Reste. Nun krankt auch noch Deutschlands wirtschaftliches Rückgrat, die Auto-Industrie. Vor kurzem klagte die WELT, „Made in Germany“ leide unter einem drastischen Ansehensverlust. Was ist aus diesem Gütesiegel geworden, existiert es als Ideal überhaupt noch?

Dort, wo die Ideale gepflegt und ihre Meister gefeiert werden, dort blüht es. Zwar gibt es mitunter einzelne Blüten auch an einem ansonsten dürren Baum, aber reichlich finden sie sich nur bei entsprechender Pflege. In der Kunst ist das so, im Leistungssport und nicht zuletzt in der Wissenschaft und der Technik. Letztere sind es, die über das Auf oder Ab einer Gesellschaft entscheiden. Was beim Fußball außer Frage steht, nämlich die Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit knallhart über die Zusammensetzung des Kaders entscheiden zu lassen, darf in der Wissenschaft und Technik nicht anders sein, zumindest in deren Spitzenbereich. Keine Quoten, sondern Eliten. Nicht zuletzt im Dienst der Schwachen, die da nicht mithalten können.

Die Selbstverständlichkeit, mit der all das für uns einmal galt, scheint gewichen und nach Asien ausgewandert zu sein. In den Ländern, die vor kurzem noch als Entwicklungsländer galten, sorgt man mit Begeisterung und Verbissenheit für das Vorankommen. Was braucht es außerdem? Geld natürlich. Aber Geld allein tut’s nicht, das sieht man an den reichen Ölstaaten. Die entsprechenden Ideale sind es, die es zu pflegen gilt.

Bildung als Ideal

Wer Schüler in den dynamischsten Staaten des heutigen Ost- und Südostasiens ist, hat für seine Bildung alles zu geben. Die Schulen erwarten das und die Eltern. So wie einst bei uns, hier in Deutschland. Und heute? Der jüngsten Pisa-Studie zufolge können 21 Prozent unserer 15-Jährigen einen einfachen Text weder lesen noch verstehen – Verhältnisse, die nur noch in Berlin unterboten werden. Häufigste Argumente sind niedriger Bildungsstand der Eltern, Überforderung der Schüler und verstopfte Schulklos. Seit jeher liegt der Akzent auf den MINT-Fächern, wenn es um die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes geht. Während in puncto Mathematik und Naturwissenschaften an unseren Schulen nur Mittelmaß zu verzeichnen ist, führen auch hier wieder Andere die Liste an. Zum Beispiel eben die Länder Asiens. Und Estland!

Die Pflege der Wissenschaft ist im Regelfall nicht Sache der Wissenschaftler selbst, sondern die von Funktionären, von – im weitesten Sinne – Politikern. Gleichwohl haben sie ihrer Aufgabe möglichst nahezustehen und die entsprechenden Ideale auch selbst im Herzen zu tragen. Wie steht es damit bei uns in Deutschland?

Üblicherweise legen die für die Bildung zuständigen Sachwalter, wie Politiker überhaupt, eher wenig Wert auf eigenes Wissen. Sie verlassen sich lieber auf das von Anderen, sofern deren Wissen für sie überhaupt erforderlich ist. Vor allem darf es den Auffassungen der eigenen Partei nicht widersprechen. Besser noch, wenn es diesen entgegenkommt. Solcherart Aufgaben verlangen von den Politikern überschaubare Anstrengungen, mitunter geht das sogar ohne Berufsabschluss. Wozu überhaupt konkretes Wissen, Behauptungen tun’s genauso, oft sogar viel besser. Von sperrigen Fakten befreit, lassen sich Behauptungen wunderbar an die Ziele der jeweiligen Meinungs-Konsortien anpassen. Widersprechende Befunde und Auffassungen können in der Öffentlichkeit durch Verschweigen ausgeblendet oder durch Diffamierung unwirksam gemacht werden.

Meinungsfreiheit als Ideal

Artikel 5 unseres Grundgesetzes sollte die Meinungs- und Zensurfreiheit garantieren, konterkariert wird er jedoch durch die Praktiken des derzeitigen politischen Mainstreams. Der bestimmt, was und wie etwas in die Öffentlichkeit gelangt, und was nicht. Als vormaliger DDR-Bürger fühlt man sich erinnert, wie ängstlich auch damals ein jeder „Verantwortungsträger“ bemüht war, die jeweils vorgegebenen Standpunkte und Regeln zu befolgen. So auch heute wieder. Sie werden von Kindesbeinen an gelehrt, im Kindergarten und in den Schulen.

Und an den Hochschulen? In kritischen Fällen hängt es von linksterroristischen Kräften ab, was an unseren Hochschulen gelehrt werden darf, wem zu lehren gestattet wird und wem nicht. Da mit dem früheren Innenminister de Maizière nun sogar Akteure des Mainstreams ausgeschlossen wurden, sah sich unser Bundespräsident zu einer Verlautbarung veranlasst. Ihr zufolge seien gerade die Universitäten der Ort für den Meinungsstreit. Hier auch müsse das Streiten wieder gelernt werden. Denn die Hochschulen wären „der Austragungsort für Kontroversen. Ohne heimlich oder offen verbreitetes Gift. Aber mit Schärfe und Polemik, mit Witz und Wettstreit“. Mehr noch: Die Universität sei „ein Ort der Freiheit aller zum Reden und zum Denken“.

Indes ist es bei Vorlesungsverboten oder entsprechenden Aussortierungen geblieben. Die krassesten Fälle sind mit den Namen der Professoren Jörg Baberowski und Ulrich Kutschera verbunden, aktuell wird auch versucht, den Dortmunder Statistik-Professor Walter Krämer zu desavouieren. Auch der Autor dieser Zeilen (Gerald Wolf) ist davon betroffen. An der Magdeburger Universität hielt er seit etwa zehn Jahren als Beitrag zum Seniorenstudium Vorlesungen, stadtoffen und über eine breite Themenpalette hinweg. Es waren in diesem Rahmen die meistbesuchten Veranstaltungen überhaupt. Mit Beginn des laufenden Semesters wurden ihm die Vorlesungen untersagt. Auch auf mehrfaches Drängen hin ohne Begründung.

Politische Ideale

Die politischen Ideale der klassischen Art, die der Demokratie, Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit, gelten noch immer. Da ist keine Partei, die sie nicht auf ihre Fahnen schreibt, allerdings ohne verbindlich sagen zu können, was man sich darunter im Einzelnen vorzustellen habe, konkret. Unter Freiheit zum Beispiel – welcher Art, für wen und gegen wen?

Politische Ideale sind durchaus nicht immer gut, sie können höchst gefährlich sein. Gerade bei uns in Deutschland gab es solche der verheerenden Art. Wilhelm II. war ein solches, heraus kam der 1. Weltkrieg, oder Hitler mit der Konsequenz Judenverfolgung und 2. Weltkrieg. Auch an „Väterchen Stalin“ sei gedacht. Er hatte es sogar ohne Krieg geschafft, Millionen und Abermillionen Menschen in den Tod zu befördern. Für den Osten Deutschlands war Stalin eher mehr als ein Ideal, er war gottgleich.

Und Gott selbst, der Gott der Juden, Christen und Moslems, der Erschaffer der Welt und der Menschen? In seinem Herrschaftsbereich gab und gibt es bis heute kaum eine Aggression und kaum einen Krieg, ohne dass man sich auf ihn beruft. Und überhaupt, kann dieser Gott als ein Ideal gelten, wenn er die Menschen wegen eines Obstdiebstahls über alle Generationen hinweg aus seinem Paradies vertrieb, Menschen, denen er dann die Sintflut auf den Hals schickte, weil er mit ihnen, mit seiner eigenen Schöpfung, nicht zufrieden war? 

Für uns DDR-Bürger gab es mit und nach Stalin ein gänzlich neues Ideal, entsprechend hieß es der Neue Mensch. Später wurde dieses Ideal pädagogisch umgegossen in die Allseitig Gebildete Sozialistische Persönlichkeit, ironisch Homo sovieticus genannt. Man glaubte, wollte zumindest der Bevölkerung glauben machen, dass bei planmäßiger, konsequenter Erziehung nach sowjetischem Muster Menschen erschaffen werden, die als Einheit gewillt sind, dem Sozialismus in unverrückbarer Klassenposition zu dienen und dessen Feinde zu bekämpfen. Auf dass es den Menschen auf der ganzen Erde gut gehe und immer besser. Diese Zeiten schienen überwunden zu sein und mit ihr das Ideal vom neuen Menschen. Doch kommen immer wieder neue Varianten auf. Jüngst aktualisiert nun durch die Beschlüsse des SPD-Parteitages im Dezember dieses Jahres.

Vom politischen Hauptstrom, dem „Mainstream“, werden die jeweils angesagten Ideale in Fahrt gesetzt. Es sind die Flaggschiffe des politischen Moralismus. Flussabwärts begegnen sie den Menschen, die sich gern vom Hauptstrom umspülen lassen. Darin plätschernd, winken sie den Flaggschiffen zu, viele jedenfalls, manche freudig, die meisten eher müde. Andere Schiffe bekommen sie ohnehin kaum zu sehen. Das wollen sie auch gar nicht, weil diese ihr Bild vom vorgefertigten Ideal stören. Und gar gegen den Strom anzuschwimmen, ist ihnen völlig fern. Wozu auch, fragen sie sich. Solange das Wasser trägt und uns warm umspült, lohnt sich das Strampeln nicht. 

Klimaschutz als Ideal

Es gibt hierzulande kein Politikfeld, auf dem nicht Versagen zu verzeichnen ist, auch solches der schlimmsten Art. Immerhin bekennen sich die Verantwortlichen dazu, auch die Leitmedien tun’s. Und sie finden im Volk ihrer Wähler Verständnis, denn, wie es zu wissen glaubt, gibt es Schlimmeres: Eine vom Menschen selbst verursachte Klimakatastrophe kataklysmischen Ausmaßes kündigt sich an! Der Klimaschutz hat daher Vorrang, und dafür drückt man gern ein Auge zu. Oder auch beide, schließlich geht es nicht nur um uns, sondern um den gesamten Planeten! Der weitaus größte Teil unserer Bevölkerung anerkennt dieses Bemühen, ist opferbereit und zeigt sich dafür an den Wahlurnen erkenntlich. Für den Machtapparat macht sich die Bevölkerung in ihrer Hinnahmebereitschaft gewissermaßen selbst zum Ideal. Zumal ein Großteil von ihr alle die Faktoren, die das Klima beeinflussen, weder versteht noch überhaupt verstehen will. 

Wozu auch etwas Genaueres über die Absorptionsbanden vom CO2 und deren Sättigungsverhalten wissen wollen, über die globale Temperatur und die CO2-Konzentration von vor tausenden und Millionen Jahren hier auf der Erde oder auf dem Mars von heute? Wen schon interessiert die Vielzahl von Klimafaktoren jenseits vom CO2? Die tagtäglichen Berichte von Unwettern, Bränden, Dürren und Überschwemmungen aus aller Welt sprechen doch eine eindeutige Sprache – alles klimawandelbedingt, was sonst? Und der wiederum kommt vom CO2, dem Treibhausgas, wie man es aus den Schloten und Auspüffen qualmen sieht, im Fernsehen. Angeblich soll das CO2 ja unsichtbar sein, aber nicht für alle – Greta Thunberg kann es sehen. Und eben auch im Fernsehen kann man es sehen.

Der Glaube, dass all das, was uns da vom grünen und linken Zeitgeist vorgelegt wird, schon seine Richtigkeit hat, spricht für sich und vermeintlich auch für die Sache. Glaubenssätze sind nun mal weit glaubhafter als irgendwelche Kurven und Tabellen, die von Wissenschaftlern gegengehalten werden samt ihrer haarsträubend langweiligen Thesen. Nicht ohne Grund ist mehr als 90 Prozent der Weltbevölkerung gläubig. Irgendwie jedenfalls. Und nicht ohne Grund kommen die sogenannten Klimaleugner bei uns nicht zu Wort, selbst wenn sie zehnmal recht haben sollten. Skepsis kostet da schnell den Job, wie gerade beim Vorstand der deutschen Wildtierstiftung, Fritz Vahrenholt, geschehen. Auch Gottgläubige wollen nicht darüber diskutieren, ob es Gott wirklich gibt.

Wirklich aber gibt es Wissenschaftler – weltweit zuhauf, darunter viele Nobelpreisträger –, die gegen die These vom anthropogenen Klimawandel massive Gründe anführen. Sie finden die Maßnahmen zur Umstellung auf erneuerbare „Energien“ wie auch auf E-Mobilität höchst fragwürdig und halten die dazu vorgesehenen Techniken für extrem problematisch. Eine riesige, über die ganze Welt verteilte Lobby finanziere die Kampagnen zum Klimaschutz, sagen sie, und: die Klimaschutz-Industrie sei ein Billionen-Dollar-Geschäft. Dass 97 Prozent aller Klimawissenschaftler den menschgemachten Klimawandel bestätigen, sei ein dreister, seinerzeit von Obama befeuerter Bluff. Die gegenwärtigen atmosphärischen CO2-Konzentrationen hätten – wenn überhaupt – einen vernachlässigbaren Einfluss auf unser Klima. Weit eher würde die Zunahme des CO2 als atmosphärischer Pflanzendünger wirken und die Begrünung der Erde nachweisbar vorantreiben. Schlimmer noch: Die Datensätze zur globalen Erwärmung würden verfälscht, entweder sei da nichts oder kaum etwas Bemerkenswertes, außer Klima-Hysterie.

Und tatsächlich, die Angst vor einer Klimakatastrophe geht mit Symptomen einer höchst befremdlichen Verzichtbereitschaft einher. In mancher Hinsicht gleichen sie denen der Selbstverletzung beim Borderline-Syndrom.

Diskurs als Ideal

Von all diesen Argumenten erfährt die Allgemeinheit nichts. Öffentliche Diskurse zu den Reizthemen menschgemachte Klimakatastrophe, Sinn und Unsinn energiewirtschaftlicher Maßnahmen oder von atmosphärischen Grenzwerten werden vermieden. Erst kürzlich haben 500 Wissenschaftler (darunter wiederum Nobelpreisträger) einen Brandbrief an den UN-Generalsekretär Guterres geschickt und vorgeschlagen, dass sich auf beiden Seiten der Klimadiskussion ausgewiesene Experten endlich in aller Öffentlichkeit austauschen. Warum auch nicht? Bei der extremen Belastung der Volkswirtschaften wie auch des Privatvermögens eines jeden Einzelnen ist die Einbeziehung der gesamten Bevölkerung dringend geboten, weltweit und natürlich auch hier bei uns.

Das in Deutschland beheimatete Europäische Institut für Klima & Energie (EIKE) ist eine der staatlich unabhängigen Einrichtungen, die weltweit erschienene Publikationen zu Fragen des Klimas sammelt und ihrerseits weiterverbreitet. Das ist vielen ein Dorn im Auge. Obwohl sich EIKE nach eigenen Worten intensiv um einen öffentlichen Diskurs mit Einrichtungen der staatlich geförderten Gegenseite bemüht, wurde er dem Institut immer verwehrt.

 

Gerald Wolf ist emeritierter Magdeburger Universitätsprofessor, Hirnforscher und Institutsdirektor. Neben zahlreichen Fachpublikationen und Fach- und Sachbüchern stammen von ihm drei Wissenschaftsromane. In seinen Vorträgen und Publikationen widmet sich Wolf der Natur des Menschen, vorzugsweise dem Gehirn und dem, was es aus uns macht. Mehr als 100 seiner Essays sind in dem kürzlich erschienenen Buch „Hirn-Geschnetzeltes“ zusammengefasst.