****       Sapere aude!        ****        
                 
Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – forderte der Philosoph Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Er hatte etwas viel von uns verlangt, aber ein wenig sollten wir ihm schon entgegenkommen. Jeder auf seine Weise. Hier die meine.
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Achse des Guten.  achgut.com 14.08.2016

„Mal unter uns, ganz offen und ehrlich!"

Von Gerald Wolf.

Das mag eine dumme Redensart sein, andernfalls ein Zeichen dafür, dass man es mit der Wahrheit eher nicht so genau nimmt. Jetzt mal wirklich ganz unter uns und absolut offen und ehrlich, verehrte Leserin, verehrter Leser: Wie halten Sie es denn mit der Wahrheit? Sie lügen nie? Wirklich nie? Dann sind Sie die große Ausnahme, denn im Schnitt lügt der Mensch pro Tag etwa 200 Mal. Behaupteten Psychologen, die die Wahrheit über das Lügen erforschen. Womöglich ist sogar das gelogen.

Gelogen wird viel und ständig. Offenbar gehört das Talent zu schwindeln in unser Erbgepäck. Beobachtungen an Schimpansen und Gorillas, unseren nächsten tierischen Verwandten, legen das nahe. Die britischen Primatenforscher Byrne und Whiten sprechen geradezu von einer „Machiavellischen Intelligenz“ (Byrne, R. W.,  Whiten, A.: Machiavellian intelligence, Oxford University Press 1988), die diesen Tieren eigen sei. Sie wüssten ihre Fähigkeit, zu lügen und zu betrügen, beim Ergaunern von Nahrung, Status und Sexpartner vorteilhaft einzusetzen.

Bezeichnenderweise können Kinder sehr früh schon täuschen und schwindeln, lange bevor sie einfachste Denkaufgaben meistern. Lügen, wenn auch von der Tendenz her angeboren, setzt eine hohe Hirnleistung voraus. So raffiniert die Methoden der Hirnforschung mittlerweile sind, bis heute gibt es keine, die man zuverlässig als Lügendetektor einsetzen kann. Unser Gehirn ist in Wahrheit wie in Lüge viel zu kompliziert, als dass es sich so einfach in die Karten gucken ließe.

Streng genommen muss man bereits von einer Lüge sprechen, wenn wir jemandem „Guten Tag“ sagen, ihm aber eher die Krätze an den Hals wünschen. Oder wenn wir einen schmetternden Beschwerdebrief „mit freundlichen Grüßen“ unterschreiben. Schon das Verschweigen der Wahrheit ist so ein Ding. Es macht einen Riesenunterschied, ob man Ostereier versteckt und dann so tut, als wisse man nicht wo, oder ob man den Mörder kennt und ihn nicht nennt. Oder ob der Staat die Nationalität von Kriminellen kennt und sie verschweigt. Nach der Kölner, Frankfurter, Hamburger, Stuttgarter, Nürnberger oder Sonst-wo-Silvesternacht sprach der Ex-Bundesinnenminister Friedrich von einem „Schweige-Kartell aus Politik, Polizei und Medien“ („Focus“ Nr. 3, 2016). Ein politisch motiviertes Schweige-Kartell, darf es so etwas geben? Hier bei uns, in einer Demokratie, in der es doch grundsätzlich offen und ehrlich zugehen sollte?

Schauspieler tun von Berufs wegen so, als ob

Der Variantenreichtum der bewusst geäußerten Unwahrheit ist riesig. Vieles davon gehört zum Formenkreis der sozialen Lügen. Sie schmieren das Räderwerk der Gesellschaft. Gelogen und getäuscht, gebläht und verniedlicht wird der Höflichkeit und dem Takt zuliebe, aus Scham, aus Angst, aus Unsicherheit, Zeitnot oder Geltungsbedürfnis. Oft auch, um der Kritik oder einer Strafe zu entgehen. Oder einfach aus Spaß. Das Leben wäre noch fader als ohnehin, wollten wir einer sturen Korrektheit zuliebe nicht wenigstens ab und an flunkernd an der Wirklichkeit vorbeischlenkern.

Wie spritzig sind doch die rhetorischen Stilmittel der Über- und der Untertreibung, die Hyperbeln und Understatements. Auch die Scherzlüge gehört hierher, der Aprilscherz etwa. Oder denken wir an Schauspieler. Von Berufs wegen tun sie so, als ob. Niemand wird ernsthaft glauben wollen, dass dieser Prinz Hamlet da vorne auf der Bühne real sei, tatsächlich der Sohn des brüderlich ermordeten Königs von Dänemark. Nein, je überzeugender Schauspieler ihre Rolle vorgaukeln, umso besser. Und Ähnliches gilt für die/den PolitikerIn (Politiker (m/w), Politiker/in), wenn sie/er Steuererleichterungen verspricht, Klimaschutz oder mehr Gerechtigkeit oder mehr Freiheit oder mehr Sicherheit.

Auch an eine ganz andere Art von Wirklichkeitskonflikten ist zu denken: An böse Wahrheiten, die auszusprechen wir uns besser dreimal überlegen sollten. Einem Sterbenskranken oder sonst wie vom Schicksal Gebrochenen wird doch wohl jeder etwas Tröstendes sagen wollen, selbst wenn er damit von der Wahrheit abrücken muss. Die ungeschminkte Wahrheit kann töten.

Kriminell aber wird, wer mit Hilfe einer Unwahrheit für sich oder andere auf ungesetzliche Weise einen Vorteil zu ergattern trachtet. Nicht minder übel ist die Intrige, eine Schwester der Zwecklüge. Mit Arglist zielt sie auf den Nachteil eines Anderen ab, und das mit bald mehr, bald weniger fein gesponnenen Netzen aus Lügen, Finten und Andeutungen, durch Diffamierung oder durch sonst wie geartete Täuschungen.

Die Sache mit der fiktionalen Glaubwürdigkeit

Apropos Täuschung, zur Gattung der Zwecklügen gehören die vielfältigsten Formen der Werbung, wie sie in der Wirtschaft gang und gäbe sind. Da werden dem Gutgläubigen Aktien und Fonds oder Immobilien angedreht, von denen der Verkäufer weiß, dass sie über die Jahre hin nur Verluste einfahren. Diäten, Pillen und Behandlungsarten werden mit Heilsversprechen verkauft, die blanke Lügen sind. Die meisten dieser Täuschungsmanöver haben gegenüber der Wahrheit den Vorteil, dass ihnen gerne geglaubt wird und der Placebo-Effekt ihnen oft rechtzugeben scheint. Selbst in der Wissenschaft wird gelogen, und das gar nicht so selten, wiewohl diese ihrer Zwecksetzung gemäß zur Wahrheitssuche antritt. Geschummelt wird der Karriere oder der Reputation wegen, oder um Forschungsgelder zu erschleichen.

Wann und wo, so muss man sich nun fragen, haben wir es denn überhaupt noch mit der Wahrheit zu tun, mit Verlässlichkeit? Am Küchentisch etwa oder am Stammtisch, in der Zeitung, im Fernsehen oder im Rundfunk, in der Schule, der Hochschule, bei Demonstrationen auf der Straße, in der Kirche, vor Gericht? In der Politik gar? Umfragen zufolge sollten vor einigen Jahren immerhin noch 15 Prozent der Bürger geglaubt haben, dass die Taktiker der Staatskunst die Wahrheit sagen, nichts vertuschen, nichts verschleiern, nichts verdrehen. Andernfalls liefen sie ja Gefahr, unglaubwürdig zu werden und sich damit auf der politischen Bühne zu verunmöglichen.

Heutzutage hat es auch die letzten der Gutgläubigen hinweggerissen. Doch Häme hin, Häme her, was schon kann ein Politiker machen, wenn er einer anderen Meinung ist als der, die ihm seine Partei vorgibt? Geradebleiben? Wohl besser sich krümmen, denn sonst ist es mit seiner Karriere aus. Gleich ob Markt oder Politik, vor Jahren schon meinte der PR-Berater Klaus Kocks, für die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit sei nicht Wahrheit die Kategorie, die über Sein und Nicht-Sein entscheide, sondern „fiktionale Glaubwürdigkeit“ (Klocks, K.: Redner reden immer nur von Notlügen. Spiegel Online, 17.1.2007.)

Warum gerne an Antifaltenremes geglaubt wird

Denken wir an Antifaltencremes. Am Alterungsprozess der Haut ändern sie nichts, gar nichts. Das in den Cremes enthaltene Öl hat einen glättenden Effekt, der rein physikalisch zu erklären ist, und das mit ihm emulgierte Wasser lässt die Haut quellen – prima: Die feinen Runzeln verschwinden! Natürlich nur vorübergehend. Butter oder Rapsöl und ein nasser Waschlappen, Gurkenschalen oder angefeuchtete Bierdeckel tun’s genauso. Dennoch Respekt, die Anbieter sind wirklich Klasse. Da wird naturwissenschaftlich und medizinisch begründet, was das Zeug hält. Nahezu nichts davon lässt sich belegen, kaum etwas ist Wahrheit. Das einzige, was am Ende stimmt, ist die Kasse. Nicht nur die der Anbieter, auch die der Medien, die deren Bauern-(und Bürger-)fängerei verbreiten. Die GEZ-Gebühren bieten dafür keinen Schutz, unser Fernsehen mischt gerne mit.

Zurück zu den Politikern: Sie alle sind rhetorisch geschult, sie wissen, ihre Worte erfolgsträchtig einzusetzen. Wie sonst sollte man sich in diesem Metier halten oder gar zur Spitze gelangen. Ebenso selbstverständlich geht es nicht ohne Klugheit, ohne Fleiß und ohne Ausdauer. Auch sei eingeräumt, dass es in der großen wie in der kleinen Politik manches gibt, das nicht sogleich in die Öffentlichkeit gehört. Allerdings verführt eine solche Sicht leicht zur Willkür.

Fakten und Geschehnisse, über die wir alle Bescheid wissen sollten, werden unter den Teppich verfrachtet oder, sicherer noch, drunten im Keller eingemauert. Kommt die Sache dennoch ans Licht, ist das Vertrauen der Bürger hin. Schon kleinere Flunkereien reichen dafür aus. Ebenso, wenn jemand um den heißen Brei herumredet oder rhetorische Pirouetten dreht, um Wahrheitsersatz oder Teilwahrheiten zu präsentieren.

Das von Bertolt Brecht im „Galilei“ formulierte Prinzip, die Wahrheit eine Lüge zu nennen

Zum selben Genre gehört die Vertuschung von unbequemen Wahrheiten, deren Verharmlosung und Beschönigung wie auch leeres Gewäsch. Ungebrochen erfolgreich hingegen und dementsprechend beliebt sind Verleumdungen, Gesinnungsphrasen, das Populismus-Etikett (Volksnähe (!) also; lat. populus, das Volk, die Volksmenge) und das von Bertolt Brecht in seinem „Galilei“ formulierte Prinzip, die Wahrheit eine Lüge zu nennen. Voraussetzung auch hier wieder: Eingängigkeit und „fiktionale Glaubwürdigkeit“.

Dann und wann jedoch haben die Bürger die Möglichkeit, per Wahl und Abwahl einzugreifen. Jeder von uns verfügt dazu über zwei Stimmchen. Die Masse macht’s, und die ist dabei aufzumucken. Sie fühlt sich verschaukelt, unter anderem deshalb, weil die Situation, in die wir bei faktisch unbeschränkter Zuwanderung geraten sind, immer nur als „Krise“ bezeichnet wird. Einige Zeit zuvor hieß es gar noch „Chance“.

An den Folgen haben vor allem die kommenden Generationen zu kauen, sie werden sich daran die Zähne ausbeißen. Wieder mal stehen Wahlen an, in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern, im nächsten Jahr dort und da, dann auch bundesweit. Und prompt kommen sie, die Politiker und die Leute von staatstragenden Medien, um in puncto Zuwanderung und Sicherheit Veränderungsbedarf anzumelden. Verunsichert und im Gewirke des sorgsam gepflegten Realitätsverlustes hastig geworden, wollen sie sogar ihre Veränderungsvorschläge noch ständig verändern. Fast könnten sie einem leidtun, die da kürzlich noch so sicher waren. Spannend, was die Addition all der vielen Stimmchen ergeben wird. Vielleicht zahlt sich, offen und ehrlich zu sein, am Ende doch aus.

Professor Gerald Wolf ist Hirnforscher und emeritierter Institutsdirektor. Er widmet sich in seinen Vorträgen und Publikationen und regelmäßig im Fernsehen (MDR um 11, Sendung „GeistReich“) dem Gehirn und dem, was es aus uns macht. Neben zahlreichen Fachpublikationen und Fach- und Sachbüchern hat er auch drei Wissenschaftsromane veröffentlicht.