****       Sapere aude!        ****        
                 
Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! – forderte der Philosoph Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Er hatte etwas viel von uns verlangt, aber ein wenig sollten wir ihm schon entgegenkommen. Jeder auf seine Weise. Hier die meine.
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Gerald Wolf, Gastautor / 15.10.2021 / Foto: Louis Feuillade

Angst haben und Angst machen

Alle Arten von Ängsten begleiten uns, lebenslang. Derzeit macht sich die Politik unsere Angst zunutze. Kein Wunder, wenn sie diese schürt.

In jedem von uns hockt sie, die Angst. Angst vorm Sterbenmüssen, vorm Fliegen, vorm Alleinsein, vor Verlust der Arbeit, von Geld oder einer Freundschaft, einer Liebe gar. Angst vor einem Überfall, vor der Zukunft, vorm Dunkel, vor Schmerz und Verletzung, vor Hunden, vor Blasenschwäche, vor der Öffentlichkeit, vor einer Blamage, die Angst vor Krebs, vor falscher Ernährung, vor der Injektionsnadel, vorm Ertrinken, vorm Ersticken, vorm Dickwerden, vorm Zahnarzt. Die Angst, dass das Geld nicht zum Leben reicht, die Höhenangst, die Prüfungs- und Versagensangst. Angst vor Links, vor Rechts, vorm Volk, vor der Regierung. Angst vor dem allgemeinen Staatsversagen, vorm politischen Gegner, vor Neuwahlen, und die Angst vor Fremdem und vor Fremden. Auch die Angst vor der Angst.

Angst − ein Gefühl, das uns vor Gefahren warnt, gleich ob sachlich begründete oder nur eingebildete. Sie hilft, unser Wohlbefinden zu sichern, unsere Gesundheit und das Überleben. Die Angst lähmt oder – im Gegenteil – verleiht uns Kraft, um eine Bedrohung aktiv („mutig“) anzugehen. Im Extremfall schaltet sie unsere Vernunft aus, und Panik entsteht. Wenn eine Angstreaktion unverhältnismäßig ist und schwerlich überwunden werden kann, dann spricht man von einer Phobie. Von Arachnophobie bei Spinnenfurcht und von Soziophobie, wenn jemand Angst hat, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, weil er Peinlichkeiten befürchtet. Damit verwandt ist die Erythrophobie (Errötungsfurcht) − die Angst vorm Erröten. Denken wir an einen jungen Mann, der begehrlich auf eine hübsche junge Dame blickt, sich aber nicht getraut, ihr zu begegnen, eben weil er befürchtet, dabei rot zu werden.

Nur Babys haben keine Angst

Unter uns Menschen völlig frei von Angst sind einzig die Babys. Wenn Neugeborene schreien, dann deshalb, weil sie Hunger empfinden, Kälte oder Schmerz, oder weil ihnen die kuschelige Nähe der Mutter fehlt, aber sie schreien nicht aus Angst. Kaum früher als mit dem achten Lebensmonat kommt sie auf, die Angstfähigkeit. So auch die Furcht vor Fremden, das sogenannte „Fremdeln“. Und das als Ergebnis der Hirnreifung − spontan, ohne irgendwann zuvor eine unangenehme Erfahrung gemacht zu haben. Geboren werden wir mit einer Hirnmasse von etwa 350 Gramm, als Erwachsene haben wir etwa das Vierfache in unserer Schädelhöhle. Nicht die Anzahl an Zellen nimmt zu, allzumal nicht die an Nervenzellen, vielmehr sind es deren Fortsätze. Sie verzweigen sich immer mehr, knüpfen dabei Kontakte zu anderen Nervenzellen, die sogenannten Synapsen, und das lässt die Hirnmasse insgesamt wachsen. Nicht irgendwie, sondern nach genetischem Programm. Aus der programmgemäßen „Verdrahtung“ ergeben sich oft ganz automatisch Fähigkeiten, die vordem nicht nachweisbar sind. So eben auch die Angstfähigkeit.

Gleiches gilt für sämtliche seelische und Sinnesgefühle, für damit zusammenhängende Handlungsantriebe und ebenso für die Intelligenz und die Lernfähigkeit. Wie auch sollte man das Sinnesgefühl für die Farben Rot oder Blau, für Laut und Leise, für den Schmerz oder für Freude oder Scham oder Zorn lernen können? Und wie sollten Mutter und Vater ihr Kind lehren, im passenden Moment Angst zu haben beziehungsweise mit unbegründeter Angst umzugehen? Die Eltern wissen ja selbst nicht, wie das mit dem Angsthaben „geht“. Niemand weiß es. Den sprachlichen Ausdruck dazu, na klar, den bringt man seinem Kind schon bei. Wenn es in Deutschland aufwächst und ihm mulmig ist, weil etwas „nicht stimmt“, dann lernt es dafür zu sagen: „Ich hab Angst“ − „I’m scared“ in England, „мне страшно“ in Russland und „我很害怕“ in China.

Um Angst zu empfinden, genügt interessanterweise schon das von Angst kündende Gesicht eines anderen Menschen. Mit bildgebenden Verfahren lässt sich zeigen, dass ein und derselbe Hirnbereich, in dem sich bei realer Bedrohung das Angstgefühl entwickelt, allein schon beim Beobachten der Angstreaktion eines Gegenübers aktiv wird. Man spricht von „Spiegelneuronen“. Wesentlich für das Angstgefühl sind die sogenannten Mandelkerne (Amygdalae) in der Tiefe des Schläfenlappens. Dort auch können wir die Angst eines Anderen mitempfinden. Mit Anderen mitzuempfinden, rührt von unserer Natur her. Schon von Natur aus sind wir soziale Wesen.

Die Angst als Hebel

Oft genügt die bloße Vorstellung einer furchtauslösenden Situation, um die Mandelkerne zu aktivieren und ein entsprechendes Schutzverhalten zu aktivieren. Bei der Erziehung unserer Kinder spielt der Umgang mit der Angst eine wichtige Rolle. Mit drohend erhobenem Finger heißt es: „Wenn du nicht…, dann…!“ Und nicht zuletzt gehören Ängste zu den wichtigsten Machthebeln in den Religionen und in der Politik. Da ist es die Angst vorm Teufel oder die Angst zu sündigen, und dort die Angst vor dem Feind, vor Verlust an Rechten oder an Vermögen, oder – zeitgemäß − die Angst vorm Klimawandel oder einer Ansteckung mit Coronaviren.

Allem Anschein nach teilen wir die Angstfähigkeit mit vielen Tieren, nicht nur mit Angst-Hasen. Wenn ein Hund weinerlich kläfft, den Schwanz einzieht und zitternd auf dem Bauch kriecht, dann sind das sehr wohl Zeichen von Angst. Obschon uns der Hund nicht direkt sagen kann, dass er Angst hat, und warum und wie er sie empfindet. Wie erst ist das bei einer Kohlmeise, die auffliegt, sobald wir uns ihr nähern? Oder bei einer Forelle im Bach, die bei einem Steinwurf Reißaus nimmt? Tun das diese Tiere aus Angst? Denken wir an eine Fliege, die entfleucht, sobald wir über ihr die Hand heben. Inwieweit, müssen wir uns fragen, sind Tiere überhaupt zu seelischen Gefühlen befähigt, zur Subjektivität? Wenn sie doch ein Mienenspiel hätten, diese Mitgeschöpfe, allzumal eines, das wir deuten könnten!

Die Mimik unserer Mitmenschen zu deuten, haben wir bereits im Kindesalter gelernt. Und auch später noch so manches hinzuerfahren. Allerdings entsteht ein Problem, wenn jemand sein Gesicht verbirgt. Durch eine Maske zum Beispiel. Da müssen wir uns fragen, was geschieht unseren Kindern, wenn in Corona-Zeiten die Mund-Nase-Partie der Mitmenschen durch Masken verdeckt ist? Können sie später, wenn alles wieder normal sein sollte, noch ausreichend lernen, Mimik zu deuten? Die uns verrät, dass unser Gegenüber Angst hat oder auf etwas stolz ist oder sich schämt. Was, wenn ein Kind, ein Einzelkind zumal, anstelle mit anderen Kindern zur Schule zu gehen, in der heimischen Isolation unterrichtet werden muss? Jeder mag sich dazu seine eigenen Gedanken machen. Allen voran die Pädagogen, die Psychologen und die Psychotherapeuten. Und unsere Politiker? Die haben gelernt, wie die Angst vor einer Ansteckung mit Corona-Viren die Menschen verändert, ja, wie sie ihr Volk (noch) willfähriger macht. Liegt es da nicht nahe, diese Angst zu pflegen?